Das Recht auf Sex

Mit aufgerissenen Augen fixiert Klaus die Glastür im Hauseingang. Es ist Montagnachmittag, kurz nach 15 Uhr. Jeden Moment sollte seine Partnerin Carmen von der Arbeit kommen. Zu lange kann Klaus nicht stehen; sein Rücken fängt an zu schmerzen. Er tippelt in seinen orthopädischen Schuhen von links nach rechts.

Als Carmen hinter der Scheibe zu sehen ist, ruft Klaus laut: «Na du!« Carmen lächelt. Klaus stellt sich hinter ihren Rollstuhl und schiebt sie zum Aufzug, hoch in die gemeinsame Wohnung. Fast jeden Nachmittag hole er sie ab, sagt Klaus.

Die beiden sind seit 16 Jahren ein Paar. Kennengelernt haben sie sich auf einer Single-Party für Menschen mit Behinderungen. Ihren Jahrestag nennt Klaus «unseren Glückstag«. Im nächsten Jahr wollen die beiden standesamtlich heiraten.

Klaus (59) und Carmen (53)

Klaus (59) und Carmen (53)

Klaus und Carmen haben körperliche und geistige Behinderungen. Klaus kann sprechen. Carmen kommuniziert vor allem mit ihren Augen und ihrem Gesichtsausdruck. Ab und zu atmet sie tief ein und stößt dann ein «Ja« aus. Wie viele Menschen mit Behinderungen sind sie in bestimmten Lebensbereichen auf die Hilfe anderer angewiesen. Auch in der Liebe und beim Sex.

Sexualität als Empowerment

Dass auch Menschen mit Behinderungen das Bedürfnis nach sexuellen Begegnungen haben, wird oft verdrängt. Aber: «Sexualität gehört zum Menschsein dazu«, sagt Martin Rothaug von der Cooperative Mensch eG in Berlin. Das Ausleben der eigenen Sexualität bedeute Empowerment, so der Psychologe. Je mehr Freiraum es in der Sexualität gebe, desto selbstbewusster werden Menschen mit Behinderungen: «Sie fordern mehr ein.«

Doch allein schon beim Kennenlernen potenzieller Partnerinnen und Partner sind Menschen mit Behinderung benachteiligt. Ihr Alltag sei oft an Einrichtungen wie Werkstätten oder Wohngemeinschaften gebunden, so Rothaug. Möglichkeiten, neue Menschen kennenzulernen, sind begrenzt. Hinzu komme die Abhängigkeit von den Betreuenden. Sexuelle Aufklärung, Kontaktpflege, gemeinsame Unternehmungen und Zukunftsplanung: Dazu brauche es oftmals Impulse und Begleitung von außen.

Wie viele Menschen in Deutschland eine Behinderung haben, die sie in der Auslebung ihrer Sexualität einschränkt, ist nicht erfasst. Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass zum Ende des vergangenen Jahres 7,8 Millionen Menschen schwerbehindert sind – jeder zehnte Deutsche.

«Heute Abend Sex?»

Klaus und Carmen haben sich gefunden. Manchmal, so erzählt Klaus, wünschen sich die beiden aber mehr Privatsphäre. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung befindet sich in einer Einrichtung der Cooperative Mensch. Die Wohnung steht immer offen. Betreuende müssen Carmen aus ihrem Rollstuhl rein- und rausheben. Sie braucht  Hilfe beim Anziehen und Essen. Klaus kann das nicht leisten. Er selbst braucht auch Unterstützung bei alltäglichen Aufgaben. Aber er kümmert sich auf seine Art. «Ich bringe ihr morgens Kaffee», sagt er.  

Auch wenn Carmen und Klaus miteinander schlafen wollen, bitten sie um Hilfe. Carmen werde dann ins Bett gelegt, ihr Intimbereich gewaschen und freigelegt. Den Rest schaffen die beide alleine, geben ein Zeichen wenn sie fertig sind, so Klaus. Auch an diesem Nachmittag fragt er einen Betreuenden: «Heute Abend Sex?» Der erwidert, dass das leider nicht geht. Es sei zu wenig Personal da, viele sind krank. «Dann frage ich nächsten Montag wieder», sagt Klaus. Carmen blinzelt. Ihr Signal für «Ja».

Trotz der fehlenden Spontaneität wirken Carmen und Klaus glücklich. Sie gehen zärtlich miteinander um. Necken sich. Lachen viel.

Klaus: Was magst du an mir?

Carmen lacht.

Klaus: Alles?

Carmen: Ja.

Klaus: Meine Art?

Carmen: Ja.

Item 1 of 4

Wenn Klaus über seine Gefühle spricht, klingt das wie ein Gedicht von Ringelnatz:

Vom Kaffeeplausch bis BDSM

In der Cooperative Mensch gibt es noch weitere Paare, erzählt Martin Rothaug. Nicht alle können in einer gemeinsamen Wohnung leben, dafür fehlen die Räumlichkeiten. Und dann gibt es noch viele Menschen mit Behinderungen, die in keiner Paarbeziehung leben, sich aber dennoch nach körperlicher Nähe sehnen. Für einige ist die Sexualbegleitung eine Möglichkeit: Eine Dienstleistung, die vom Kuscheln, über die Anleitung zur Masturbation bis hin zum penetrativen Sex reichen kann.

Michael Hillmann ist noch relativ neu in dem Beruf. Im Jahr 2019 hat er sich in der Schweiz zum Sexualbegleiter zertifizieren lassen. Seither besucht er vier Männer in regelmäßigen Abständen. Und fährt dafür quer durch Deutschland. «Es gibt nach wie vor zu wenige Sexualbegleiter», sagt Hillmann. Auch als Mann ist er in dem Beruf eine Ausnahme.

Bei den Besuchen bei seinen Klienten steht nicht immer das Sexuelle im Vordergrund. «Vor allem nicht am Anfang. Das ist erst viel Vertrauensarbeit», sagt Hillmann. Einmal, so erzählt er, sei er mit einem Klienten nur in seinem Auto herumgefahren. Einfach so. Weil sein Klient so gerne im Auto sitzt. Manchmal kommt er auch nur zum Kaffeetrinken. Ein anderes Mal werden BDSM-Praktiken ausprobiert. Je nachdem, was sich seine Klienten wünschen. Und womit sich Hillmann wohlfühlt.

Grenzen kennenlernen

«Es muss sich stimmig anfühlen», sagt Hillmann. Und zwar für beide. Darin unterscheide sich die Sexualbegleitung auch von der Prostitution, sagt Hillmann. Auch im Hinblick auf Einvernehmlichkeit stellen sich in der Sexualbegleitung Fragen: Woher weiß Hillmann, dass ein Klient eine Berührung wirklich will, wenn er nicht verbal kommunizieren kann? «Ich tue nichts, bei dem ich mir nicht sicher bin, dass die andere Person das gerade will. Es geht viel um Intuition, man muss jede Regung wahrnehmen.»

Auch in der Cooperative Mensch wird Konsens thematisiert. In Workshops können Bewohnende lernen, wie sie ihre eigenen Grenzen kommunizieren. «Wir erleben oft, dass Menschen mit Behinderung kein Schamgefühl und Schamgrenzen für sich selbst kennengelernt haben, weil sie von klein auf durch die Pflege von fremden Personen fremdbestimmt waren», sagt Martin Rothaug. In anderen Workshops geht es um Geschlechtsidentität oder die Frage nach Elternschaft.

Wie geht Verhütung? Workshop-Materialien in der Cooperative Mensch geben Antworten auf Fragen wie diese.

Wie geht Verhütung? Workshop-Materialien in der Cooperative Mensch geben Antworten auf Fragen wie diese.

Von der Sexualbegleitung leben kann Hillmann noch nicht. Derzeit betreibt er hauptberuflich einen Bio-Laden in Bielefeld. Den will er aber im nächsten Jahr abgeben und sich dann ganz auf seine Arbeit als Sexualbegleiter und Kuscheltherapeut konzentrieren – «Körperarbeit» nennt Hillmann das. In der Stunde verdient er damit 100 Euro. Die Fahrtkosten stellt er auch in Rechnung. «Die Zeit für die Fahrt berechne ich aber nicht. Heute war ich insgesamt vier Stunden unterwegs. 100 Euro dafür ist schon grenzwertig», sagt Hillmann. Gleichzeitig weiß er, dass einige seiner Klienten selbst für diese 100 Euro lange sparen müssen.

Sexualbegleiter Michael Hillmann (62). Foto: Gesa-Alexandra Rose

Sexualbegleiter Michael Hillmann (62). Foto: Gesa-Alexandra Rose

Gibt es ein Recht auf Sex?

Denn sexuelle Dienstleistungen wie die von Michael Hillmann müssen Menschen mit Behinderungen selbst bezahlen. Der Staat oder die Krankenkassen übernehmen die Kosten in der Regel nicht. Wer aufgrund einer Behinderung in der gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt wird, kann zwar sogenannte Eingliederungshilfen erhalten. Darin enthalten sind die Leistungen für die soziale Teilhabe, die unter anderem für Assistenzen vorgesehen ist. Kosten für sexuelle Dienstleistungen fallen jedoch nicht darunter.

Dabei gibt es Argumente dafür: Artikel 2 des Grundgesetzes sieht vor, das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu schützen – daraus ergibt sich auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. In Artikel 3 des Grundgesetzes heißt es zudem: «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.» Bei Menschen, die sich beispielsweise aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen nicht selbst befriedigen können, ist eine Benachteiligung im Bereich der Sexualität zweifelsohne gegeben. Die Rechtsprechung hält in den meisten Fällen dagegen, dass diese Leistungen auf einen Zweck abzielen: mehr Teilhabe an der Gesellschaft. Sexuelle Dienstleistungen würden dieses Kriterium nicht erfüllen.

Das Sozialgericht Hannover hat im Sommer 2022 jedoch ein anderes Urteil gesprochen: Einem Mann, der nach einem Arbeitsunfall schwerbehindert ist, wurde Sexualbegleitung zugestanden. Bezahlt von der Berufsgenossenschaft. In der Begründung hieß es, Leistungen zur sozialen Teilhabe seien nicht darauf beschränkt, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel für den Alltag bereitzustellen. Und weiter: «Auch im privaten und vertrauten Bereich, wie hier im Rahmen der Sexualität, ist sicherzustellen, dass die soziale Teilhabe des behinderten Menschen nicht eingeschränkt wird.» Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Das sagt die Politik

Sören Pellmann von der Linken-Fraktion macht sich für einen Rechtsanspruch stark: «Spätestens mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention rückt Selbstbestimmung in den Fokus. Darunter verstehe ich auch, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Sexualität haben, so wie es jeder andere Mensch auch hat.» Daher seien Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine Sexualbegleitung ermöglichen. Er sei der Überzeugung, dass es dafür auch finanzielle Unterstützung brauche, so Pellmann. «Staatliche Kostenträger oder Krankenkassen sind meiner Meinung nach eher ungeeignet.» Er schlägt ein Budget vor, das von Beratungsstellen für Menschen mit Behinderungen verwaltet werden könnte.

Der behindertenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der CDU/CSU Wilfried Oellers hält eine staatliche Bezuschussung «sowohl rechtlich als auch praktisch für schwierig.» Auch er argumentiert, dass Sexualassistenz nach der Rechtsprechung nicht das Leben in der Gemeinschaft erleichtere. «Ich frage mich aber auch für die Praxis: Wie kann eine Sexualassistenz von der Befriedigung sexueller Bedürfnisse, die wiederum nicht nur für Menschen mit, sondern auch ohne Behinderung zur Lebensqualität gehört, sinnvoll abgegrenzt werden? Wie stark muss eine Beeinträchtigung sein, damit eine Bezuschussung erfolgen kann? Schafft man mit einer Bezuschussung möglicherweise neue Ungerechtigkeiten?»

Die AfD hält nach dem Urteil aus Hannover eine gesamtgesellschaftliche Debatte über das Thema für notwendig. Jürgen Pohl lässt verlauten, dass Menschen mit Behinderungen nach Einzelfallentscheidungen persönliche Budgets für Sexualbegleitung bekommen könnten. «Ein generelles, einklagbares «Recht auf praktizierte Sexualität» ist in Anbetracht einer schwierigen Umsetzung sowie unklaren Rechtsfolgen jedoch abzulehnen», heißt es in der Stellungnahme.

Die jeweiligen Sprecher:innen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, SPD und FDP haben eine Stellungnahme zu dem Thema abgelehnt.

Mike (43) sucht eine Partnerin.

Mike (43) sucht eine Partnerin.

"Sie sollte stilvoll, anständig, loyal und auch ein wenig romantisch sein" – Auszug aus Mikes Kontaktanzeige

"Sie sollte stilvoll, anständig, loyal und auch ein wenig romantisch sein" – Auszug aus Mikes Kontaktanzeige

"Sie sollte stilvoll, anständig, loyal und auch ein wenig romantisch sein" – Auszug aus Mikes Kontaktanzeige

"Sie sollte stilvoll, anständig, loyal und auch ein wenig romantisch sein" – Auszug aus Mikes Kontaktanzeige

"Sie sollte stilvoll, anständig, loyal und auch ein wenig romantisch sein" – Auszug aus Mikes Kontaktanzeige

"Sie sollte stilvoll, anständig, loyal und auch ein wenig romantisch sein" – Auszug aus Mikes Kontaktanzeige

"Die Poster habe ich von der Venus-Messe", Mike (43).

"Die Poster habe ich von der Venus-Messe", Mike (43).

"Die Poster habe ich von der Venus-Messe", Mike (43).

"Die Poster habe ich von der Venus-Messe", Mike (43).

Mike hofft darauf, bald eine Partnerin zu finden.

Mike hofft darauf, bald eine Partnerin zu finden.

Suchen nach der Liebe

Auch Mike hat schon einmal eine Sexualbegleiterin zu Besuch gehabt. «Da hat mein Herz boom, boom, boom gemacht», sagt der 43-Jährige. Noch einmal würde er es aber nicht unbedingt machen. Zu teuer. Und außerdem sucht er etwas anderes: die ganz große Liebe.

Jemand passenden kennenzulernen, findet Mike aber gar nicht so einfach. «Meine Betreuerinnen haben gesagt, ich sollte öfter mal rausgehen», sagt er. Doch er verbringe seine Freizeit nun mal lieber drinnen. Er bezeichnet sich selbst als schüchtern. Auch auf Single-Partys für Menschen mit Behinderungen will er nicht gehen. «Mit diesem riesen Ding kann man nicht gut tanzen», sagt er und zeigt auf seinen Rollstuhl, der in der Ecke seines Zimmers steht.

Daher hat er sich für eine Kontaktanzeige entschieden. Zwei Mal im Jahr können Menschen mit Behinderung aus Berlin und Brandenburg im «Kontaktanzeiger» ihre Suche aufgeben. Das Heft wird dann an Träger in ganz Berlin verschickt, erklärt Martin Rothaug. Im Heft sieht man fast nur Fotos von Männern, die meisten suchen Frauen. «Frauen haben Angst überrannt zu werden, höre ich immer mal wieder. Aber sie lesen den Kontaktanzeiger aufmerksam und melden sich dann. Das ist fast ein bisschen wie Tinder», sagt Rothaug.

In Mikes Anzeige steht: «In meiner Freizeit beobachte ich gerne Sonnenuntergänge.» Das würde er in Zukunft gerne mit einer Partnerin machen. Außerdem hätte er am liebsten eine Frau, die gerne zockt. Und Musik hört. Mike stöpselt sein Handy in seine Stereoanlage. Tokio Hotels erster Hit «Durch den Monsun» dröhnt aus den Lautsprechern. Mike wippt im Takt und singt den Refrain mit. Zwischendurch kichert er verlegen.

Was würdest du gerne auf einem ersten Date machen?

Mike: Händchen halten. Oder ins Kino gehen.

Mike lebt in einer sogenannten besonderen Wohnform, eine Art WG für Menschen mit Behinderungen, die von Betreuungspersonal unterstützt wird. In seinem geräumigen Zimmer ist eine Wand knallgelb gestrichen. Über seinem Bett hängen Poster von nackten Frauen. Blond mit großen Brüsten.

So müsse seine zukünftige Partnerin aber nicht aussehen, sagt Mike. Er möge sowieso lieber braune Haare. Wenn er eine Partnerin hätte, würde er auch gerne mit ihr zusammenleben, sagt Mike. «Sie sollte treu sein. Das ist das Wichtigste.» Außerdem wünscht er sich jemanden, der liebevoll ist. «Und zu dem ich liebevoll bin», ergänzt er. «Auch Sex und Küssen gehört zu einer Beziehung dazu.»

Bislang hat sich nur eine Frau auf seine Anzeige gemeldet. Nachdem sie sich das erste Mal trafen, sei das aber «im Sande verlaufen», erzählt Mike. Sie mochte es nicht, dass er raucht. Er habe sich an ihrer Unpünktlichkeit gestört, sagt Mike. Ob er sich manchmal einsam fühle? «Ja, regelmäßig», antwortet er. Er sitzt auf seinem Einzelbett und schaut auf die Bilder der nackten Frauen. Seine Handinnenflächen hält er aneinander.

Es sieht fast so aus, als würde er beten.